Berlin ist eine Stadt, die für Kultur, Modernität und Vielfalt steht wie kaum eine andere in Deutschland. Doch vor nicht allzu langer Zeit gab es Menschen in Berlin, die sich in ihrer eigenen Heimat nicht sicher fühlen konnten. Noch heute erinnern Denkmäler, Überreste der Berliner Mauer und Gedenkstätten wie die in Hohenschönhausen daran.
In Berlin-Hohenschönhausen befindet sich das ehemalige Gefängnis der Staatsicherheit (Stasi). Hier wurden nach Ende des 2. Weltkrieges in einem Zeitraum von etwa 45 Jahren rund 40.000 Menschen inhaftiert. Einer dieser Ex-Häftlinge ist Michael Bradler. Bei einer Führung durch die Gedenkstätte gewährt der 62-Jährige mir und anderen Besuchern einmalige Einblicke, die mich so schnell nicht mehr loslassen werden.
Berlin: Hinter hochgezogenen Mauern – Monate der Folter
Gerade mal 35 Jahre ist es her, dass an diesem Ort Menschen inhaftiert wurden, die im Grunde genommen nur ihre Meinung aussprachen oder in den westlichen Teil Deutschlands reisen wollten. Für mich heute unvorstellbar, doch wie ich an diesem Tag noch lernen werde, traf das auch auf Menschen der damaligen Zeit zu.
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Meine Führung beginnt mit einem Kurzfilm zur Geschichte des Stasi-Gefängnisses. Ich bekomme einen kurzen Eindruck, welche Menschen hier inhaftiert wurden und wieso. „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und der muss weg!“, fasst unser Referent Michael Bradler das Motto sowohl der Sowjets als auch der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) in der DDR später zusammen. Boykott-Hetze, Republikflucht, Spionage nannte es die Stasi.
Im Altbau gehen wir an zahlreichen Kellerverliesen vorbei. In einer maximal fünf Quadratmeter großen Zelle wurden zum Teil mehrere Menschen eingepfercht. Ein Holz-Bett und ein Eimer zum Wasserlassen gehörten zum Inventar. Licht gab es keins, sodass die Häftlinge nie wussten, wann Tag oder Nacht ist. Auch mich erfasst ein beklemmendes Gefühl bei der Vorstellung, auch nur einen Tag hier eingesperrt zu sein. Zur Zeit der Sowjets hätten die Wärter versucht, gewaltsam die „Wahrheit“ aus den Insassen zu bekommen. Nach dem Tod des ehemaligen Ministerpräsidenten Josef Stalin habe man zunehmend mehr auf psychische Gewalt gesetzt.
In einem Raum, der dem einer alten Schulklasse ähnelt, erzählt Bradler erstmals seine bewegende Geschichte. Im Alter von 20 Jahren kam er in U-Haft, nachdem er mehrere Ausreiseanträge gestellt hatte, die alle abgelehnt wurden und er einen letzten Versuch wagte, als er zur Grenze an die Sonnenallee ging. „Mir war klar, dass die mich nicht rüber lassen. Aber ich dachte, dass sie mich vielleicht drei Tage festhalten und dann schon merken, dass ich es ernst meine.“ Seine Hoffnung: Kurze Haft und die Bundesrepublik kauft ihn frei. Aus drei Tagen wurden acht Monate im Gefängnis Hohenschönhausen.
Tragisches Schicksal – Ex-Häftling packt aus
Weil Michael Bradler am Abend des 11. Januar 1982 bei der Grenzübergangsstelle Sonnenallee vor den Grenzposten steht und ihnen mitteilt, dass er in den Westen zu seinen Großeltern will, wird er festgenommen. Nach einem siebenstündigen Verhör kommt er nach Hohenschönhausen. Isolation war dort das Mittel der Folter. Raus aus dem Keller, dafür in einer Einzelzelle bekamen die Häftlinge Monate lang nichts, außer die Stasi-Mitarbeiter zu sehen.
Sie durften nicht singen, nicht lesen und keinen Sport machen. „Und am Tag durfte nicht geschlafen werden. Wer gegen die Hausordnung verstieß, dem wurden die 20 Minuten Freigang am Tag gestrichen“, berichtet der ehemalige Insasse. Nachts bekam er jedoch auch wenig Schlaf, da in dieser Zeit stundenlange Verhöre stattfanden. Bradler knickte nicht ein, doch es nützte nichts. In einem Schauprozess wurde er letztlich wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“ zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnisstrafe in Sachsenhausen verurteilt. Im Oktober 1982 kaufte ihn die Bundesrepublik frei und die Abschiebung folgte.
Verarbeitung statt Verdrängung
Die schwerverdauliche Kost versucht Bradler immer wieder mit ein paar kecken Sprüchen aufzulockern. Für mich als Kind aus Nordrhein-Westfalen ist er die Definition eines waschechten Berliners, wie man ihn sich im Westen vorstellt. Im schwarzen Anzug, mit klassischem Berliner Akzent und ab und zu einer Fluppe im Mund spricht er zu uns.
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Ich frage mich, wie man so ein Erlebnis verarbeitet und an den Ort, der einem so viel Leid zugefügt hat, wieder zurückkommen kann, ohne dass man instinktiv sofort wieder flüchten möchte. Bradler verrät, dass er viele Jahre gar nicht über seine Inhaftierung gesprochen habe und die Zeit einfach nur verdrängen wollte. „Es hat einem ja eh keiner geglaubt.“ Erst als sein zehnjähriger Sohn bei einem Gespräch mit einem Kumpel mitbekam, dass sein Vater im Knast saß, musste er sich plötzlich erklären. Schließlich kommen doch eigentlich nur Verbrecher ins Gefängnis. Von dem Zeitpunkt an setzte sich der Ex-Stasi-Häftling mit seiner Geschichte und der DDR wieder näher auseinander. Nun hat der 62-Jährige es sich zum Ziel gemacht, vor allem Kinder und Jugendliche aufzuklären.
DDR-Anwohner völlig ahnungslos
Nach fast zwei Stunden ist mein Redebedarf immer noch groß und ich komme ins Gespräch mit einem Paar. Beide sind in der DDR aufgewachsen und ihre Erfahrungen unterscheiden sich so extrem von den Erzählungen Bradlers. „Wir hatten eine tolle Kindheit und Jugend in der DDR“, berichten sie und schwelgen in Erinnerungen, wie sie in ihren Lieblings-Kiosk gingen, nur um den Geruch dort einzuatmen. Auch Westfernsehen gab es zuhause. Doch eine Aussage lässt mich völlig verblüfft zurück. „Von diesem Ort hier haben wir überhaupt nichts mitbekommen.“
Bradler dagegen wundert das nicht. „Selbst als Häftling wusstest du ja nicht, wo du bist. Ich bin mit einer Kapuze über dem Kopf in einem als Wäsche-Lieferwagen getarnten Gefangenen-Transporter hier hingefahren worden. Meinen Kopf musste ich die ganze Fahrt nach unten drücken und durfte nicht durch die Fenster schauen.“ Das Gelände war damals Sperrgebiet, war auf keinem Ostberliner Stadtplan zu finden und niemand in der Nachbarschaft wusste, was hinter den Mauern geschah. Bradler selbst erfuhr erst 16 Jahre nach seiner Haft durch Zufall dass dieser Ort das Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen gewesen ist.
Die endgültige Erlösung kam erst mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Ein Jahr später wurde die U-Haft in Hohenschönhausen geschlossen. Für die meisten Mitarbeiter der Stasi hatten die Folter-Maßnahmen später keine juristischen Konsequenzen. Das Schicksal von Michael Bradler und den tausend anderen Ex-Häftlingen berührt und schockiert mich zugleich. Meine einzige Hoffnung ist, dass es sowas in Deutschland nie wieder geben wird.